Nach der gefälschten Präsidentschaftswahl im Sommer 2020 formierte sich in Belarus eine landesweite Demokratiebewegung, die seitdem demokratische Wahlen und weitreichende Reformen einfordert. Olga Shparaga, Mitglied des Koordinierungsrates der belarussischen Opposition und Teilnehmerin des Podiums am 15.6.2021 im Rahmen des Campus-Forums, bemerkte im letzten Jahr, "das Ende der Geduld" vieler Menschen in ihrem Land habe sich "in Form der politischen Proteste im Umfeld der Präsidentschaftswahlen öffentlich Ausdruck verschafft, die ja […] gefälscht wurden." Diese Proteste hätten gezeigt, "dass die Menschen in Belarus nicht mehr vom Staat erniedrigt werden wollen."[1]
Seit 1950 waren auch die Wahlen in der DDR von Protesten begleitet. Freie und demokratische Wahlen wurden immer wieder von Gegnern der SED-Diktatur gefordert. Wegen Verbreitung von Flugblättern gegen die erste Volkskammerwahl war sogar der Oberschüler Hermann Flade Anfang 1951 zum Tode verurteilt worden. Nur aufgrund massiver Proteste in ganz Deutschland sowie im Ausland kam es letztlich nicht zu einer Hinrichtung – Flade musste stattdessen eine zehnjährige Haftstrafe verbüßen.[2]
Nach offizieller Lehrmeinung in der DDR spiegelte ihr Wahlsystem "die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" wider und machte "die Vereinigung aller Kräfte des Volkes zum gemeinsamen Handeln für die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft durch die Parteien und Massenorganisationen in der Nationalen Front der DDR deutlich." Wahlen – so die damalige Schlussfolgerung –, "dienen der Festigung der Machtverhältnisse" und sind "so zugleich Instrument der sozialistischen Demokratie."[3] Seit der ersten Volkskammerwahl galt in der DDR das System der Einheitsliste. Es handelte sich dabei um, eine Listenverbindung, bei der alle zur Wahl antretenden Parteien und Massenorganisationen ihre jeweiligen Kandidaten und Kandidatinnen auf einen gemeinsamen Wahlvorschlag der Nationalen Front verpflichten. Die Bürgerinnen und Bürger in der DDR konnten somit an der Wahlurne lediglich dem einheitlichen Wahlvorschlag zustimmen oder ihn ablehnen – Gegenstimmen hatten jedoch keine Auswirkungen auf die Sitzverteilung. Durch einen bereits im Sommer 1950 festgelegten und bis 1989 nur marginal veränderten Verteilerschlüssel für die Mandate, entfiel für die Wähler und Wählerinnen die Möglichkeit einer tatsächlichen Willensäußerung durch ihre Stimmabgabe, da ein konkurrierender Wettbewerb zwischen den Parteien und Organisationen nicht stattfand.
Während eine ablehnende oder ungültige Stimmabgabe mit erheblichem Aufwand verbunden war, genügte es für die Zustimmung lediglich, den Wahlzettel zu falten und in die Urne zu werfen.
Im Vorfeld der für Anfang Mai 1989 geplanten Wahlen zu den Volksvertretungen auf kommunaler Ebene zeigten oppositionelle Gruppen in der DDR eine rege Aktivität. Neben Aufrufen zum Wahlboykott zirkulierten in allen Regionen Aufklärungsschriften, welche die rechtlichen Rahmenbedingungen dieser Wahl beinhalteten und die Informationslücke schlossen, wie ungültige Stimmen bzw. Gegenstimmen aussehen müssten, da es dafür seitens der staatlichen Stellen keine Hinweise gab. Neben der Kritik am Wahlsystem in der DDR traten die Oppositionellen offen für das Recht ein, zu den anstehenden Kommunalwahlen unabhängige Kandidaten aufzustellen, die nicht auf den Listen der Nationalen Front platziert waren. In einem offenen Brief an die Wählerinnen und Wähler unterstrich etwa die Initiativgruppe ‚Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung’ Mitte Februar 1989: „Das Recht zu wählen sollte wahrgenommen werden und nicht einer Verpflichtung zum Bekenntnis genüge getan werden.“[4] Im Gegensatz zu den bereits 1989 vollzogenen Veränderungen des Wahlrechts in Polen, Ungarn und in der Sowjetunion, wo alternative Wahlentscheidungen zugelassen wurden, lehnten die politisch Verantwortlichen in der DDR jegliche Reformen ab. Der Leipziger Stasi-Chef Generalleutnant Manfred Hummitzsch formulierte Ende Februar 1989 bei einer Dienstbesprechung des MfS als „Hauptaufgabe“ für die Kommunalwahlen „ein eindeutiges Bekenntnis […] zur Politik der Partei zu organisieren.“[5]
Fälschungen bei den Wahlen im SED-Regime waren seit Jahrzehnten gang und gäbe, aber öffentlich nie nachgewiesen worden. Nach offiziellen staatlichen Angaben entfielen bei der Wahl am 7. Mai 1989 98,85 Prozent der Stimmen auf den gemeinsamen Wahlvorschlag der Nationalen Front. Zwar wurden erstmals bei einer Wahl in der DDR weniger als 99 Prozent Ja-Stimmen registriert, doch auch dieses Ergebnis war gefälscht, wie die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter der oppositionellen Gruppen bei ihren Beobachtungen der Auszählungen in verschiedenen Orten zwischen Ostsee und Erzgebirge feststellten und dokumentierten. Stasi-Chef Erich Mielke setzte die Leiter der MfS-Dienststellen in Kenntnis, dass „auf der Grundlage der am Wahltag durchgeführten sogenannten flächendeckenden ‚Kontrollen‘ bzw. der ‚Überwachung‘ der Wahlhandlung und der Stimmenauszählung in Wahllokalen […] innere Feinde den ‚Nachweis‘ einer angeblichen Fälschung des Wahlergebnisses in ausgewählten Wahlbezirken zu führen“ beabsichtigen. Seiner Beobachtung nach sei dabei „ein stabsmäßig organisiertes und koordiniertes Vorgehen feindlicher, oppositioneller Kräfte […] zu erkennen.“[6] Vertreterinnen und Vertreter der oppositionellen Gruppen erstatteten u. a. Strafanzeigen wegen Manipulation und Wahlfälschung, schrieben Eingaben und riefen zu Demonstrationen auf. Trotz zum Teil massiver Sanktionen der Sicherheitsorgane ließen diese Aktionen „ein gewachsenes Selbstbewusstsein gegen die Allmacht von Partei und Staat erkennen.“[7] An jedem 7. der Folgemonate kam es zu Protesten. Für den 7. Oktober kursierten etwa in Ost-Berlin Flyer mit der Aufschrift: „7. Oktober: 40 Jahre DDR. 5 Monate Wahlbetrug. Wir wollen gemeinsam lachen, auch wenn´s schwerfällt. 17:00 Uhr Alexanderplatz.“[8] Bereits Anfang Juni war der „Wahlfall 89“ erschienen. Er war von der oppositionellen Koordinierungsgruppe Wahlen herausgegebenen und in der Berliner Umweltbibliothek illegal gedruckt worden. In der ausführlichsten Dokumentation der nachgewiesenen Wahlfälschungen wurde von den Verfassern „eine grundlegende Reform des Wahlrechts“ gefordert, die es den Bürgern ermöglichen sollte„ sich aktiv in die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen zu seinen Vertretungen einzubringen.“ Diese Reform – so die Verfasser –, sei aber „nur im Zusammenhang mit einem umfassenden Demokratisierungsprozess möglich, der wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bereiche“ umfasse.[9]
Die Kommunalwahl im Mai 1989 lässt sich „für das Verständnis des Systemwechsels in der DDR“ als „entscheidendes Schlüsselereignis“[10] bezeichnen sowie als „Zäsur für das Umschlagen von Opposition in Revolution.“[11]
Im Archiv der DDR-Opposition gibt es umfangreiche Unterlagen verschiedener Persönlichkeiten und Gruppen, die zentrale Einblicke in die Entwicklungen vor, während und nach der Kommunalwahl 1989 geben. Neben Archivalien aus verschiedenen persönlichen Beständen und Nachlässen, etwa von Bernd Albani, Udo Barfaut, Bärbel Bohley, Kerstin Gierke, Eckart Hübener, Kathrin Menge, Gerd und Ulrike Poppe, Jutta und Eberhard Seidel, Tom Sello sowie Helmut Stieler befindet sich im Sammlungsbestand ‚Opposition bis 1989‘ ein umfangreiches Konvolut zur Kommunalwahl 1989. Zu finden sind hier u. a. Berichte von Wahlversammlungen, Erklärungen, Korrespondenz, Eingaben im Vorfeld der Wahlen, Berichte von Stimmauszählungen in verschiedenen Städten und Wahlkreisen der DDR, Unterlagen von Protesten gegen die Wahlfälschung in Ost-Berlin und aus verschiedenen Bezirken der DDR sowie offizielle Materialien, etwa Stimmzettel, Erklärung des Staatsrates der DDR und Hinweise für die Tätigkeit der Wahlvorstände für die Wahlen am 7. Mai 1989.
Mit der Kommunalwahl 1989 beschäftigen sich zudem viele Artikel in den verschiedenen von oppositionellen Gruppen herausgegebenen Samisdat-Ausgaben, die im Archiv eingesehen werden können.
Neben allgemeinen Fotos zu den verschiedenen Wahlen in der DDR, sind die Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, die Proteste gegen den Wahlbetrug und die Forderungen nach freien Wahlen während der Friedlichen Revolution 1989 im Archiv der DDR-Opposition umfangreich fotografisch überliefert.
Fotos zu diesen Themen finden sich u. a. bei den Fotografen Nikolaus Becker, Johannes Beleites, Ralf Herzig, Andreas Kämper, Holger Kulick, Jörg Metzner, Sandro Most, Aram Radomski, Hans-Jürgen Röder, Siegbert Schefke, Bernd Weu, Rolf Zöllner und Gerhard Zwickert. Besonders die am 7. Oktober 1989, dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR, stattfindende Demonstration gegen den Wahlbetrug und das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstrierenden ist von vielen Fotografen fast minutiös dokumentiert.
[1] „Die Grenze der Leidensfähigkeit war erreicht“. Interview mit Olga Shparaga in der Zeit, 5.9.2020, https://www.zeit.de/kultur/2020-09/revolution-belarus-olga-shparaga-feminismus-coronavirus-emanzipation (Zugriff 10.6.2021).
[2] Vgl.: Karin König: Die Freiheit ist mir lieber als mein Leben. Hermann Flade – Eine Biographie, Berlin 2020.Weiter Informationen zu Hermann Flade finden Sie hier: https://www.jugendopposition.de/themen/145426/hermann-joseph-flade
[3] Kleines Politisches Wörterbuch, 3. überarb. Auflage, Berlin 1978, S. 989.
[4] „Wer die Wahl hat… Offener Brief an Wählerinnen und Wähler“ von der Initiativgruppe ‚Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung‘, 15.2.1989; RHG/EP 11/1, Bl. 11.
[5] So der Leiter der Leipziger MfS-Bezirksverwaltung, Manfred Hummitzsch, bei einer Dienstbesprechung am 24.2.1989, zit. nach: Wolfgang Schuller: Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009, S. 46.
[6] „Maßnahmen zur Zurückweisung und Unterbindung von Aktivitäten feindlicher, oppositioneller und anderer negativer Kräfte zur Diskreditierung der Ergebnisse der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989“, abgedruckt in: Armin Mitter und Stefan Wolle (Hrsg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS Januar-November 1989, Berlin 1990, S. 42.
[7] Hermann Weber: DDR. Grundriss der Geschichte 1945-1990, Hannover 1991, S. 211.
[8] RHG/EP 11/3, Bl. 125.
[9] Wahlfall 89. Eine Dokumentation, hrsg. von der Koordinierungsgruppe Wahlen, [Berlin 1989], S. 30. RHG/UP 119.
[10] Hans Michael Kloth: Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000, S. 115.
[11] Karl Wilhelm Fricke: Die DDR-Kommunalwahlen ‚89 als Zäsur für das Umschlagen von Opposition in Revolution, in: Eberhart Kuhrt (Hrsg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Opladen 1999, S. 467.